RealFiktionen – Der Workshop

Es gibt Gesprächsbedarf.

Am 17. Februar 2015 kamen die zehn an RealFiktionen beteiligten AutorInnen Jörg Albrecht, Hannes Becker, Nolte Decar (Michel Decar und Jakob Nolte), Olga Grjasnowa, Wolfram Lotz, Maxi Obexer, Kathrin Röggla, Gerhild Steinbuch und Deniz Utlu, und die VeranstalterInnen Carolin Beutel und Thomas Köck in der Lettrétage, dem Kreuzberger Literaturhaus zusammen, um sich kennenzulernen, und Lesungen und Gespräche für den Mai zu planen, aber vor allem: um sich zu unterhalten. Denn es gab Gesprächsbedarf. Aus dem eigentlichen Thema, der Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion in Prosa und Theatertexten vor dem Hintergrund unzähliger, digital verfügbarer Hybride von „realen Fiktionen“, wuchs stattdessen rasch eine grundsätzliche Debatte über die Rolle von Literatur bzw. dramatischem oder postdramatischem Text im Theater. Es wurde über Themen, Zugriffe und Sprache diskutiert, wesentlich war aber dann die Frage nach dem Standort – oder eher der Ecke in die der Text bzw. AutorInnen im Zuge einer vermeintlichen „Öffnung“ für neue Formen immer wieder geschoben werden. Gefragt wurde nach der Rolle von AutorInnen in einem kriselnden Theaterbetrieb, und in der literarischen Öffentlichkeit, von ökonomischen Bedingungen, nach dem Wert von verdichteter, gearbeiteter Sprache, von widerständiger Sprache, von Sprache, die eine Verantwortung gegenüber der Realität einfordert, einer Sprache, die nicht den schnellen Projektformaten entspricht, sondern als Widerstand und gearbeiteter Stoff eine eigene Qualität besitzt und der Verantwortung von Theatern, dieser Sprache Raum zu geben.

Der folgende Bericht ist auf keinen Fall vollständig und wird sicherlich nicht allen Ansichten gerecht. Er besteht aus mindestens zehn verschiedenen, zum Teil sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen, Erwartungshaltungen, Produktionsbedingungen, letztlich Sprachen und aus mindestens genauso vielen komplett widersprüchlichen Meinungen. Es ist also eher der Versuch eines Querschnitts einer siebenstündigen Diskussion. Es ist ein Versuch, all diese Stimmen in ihrer Widersprüchlichkeit zu bündeln, um Überlegungen, Fragen und Probleme, die diskutiert wurden, auch nach draußen zu tragen. Es ist also mehr ein lautes Nachdenken als ein konzentriertes Wühlen.

Wieso fallen AutorInnen immer als Erste unter den Tisch?

Der Begriff der AutorInnenschaft hat sich erweitert. Interessanterweise fällt in vielen Debatten und Gesprächen über diese neue Autorschaft unter den Tisch, dass sich der Begriff auch und zu weiten Teilen aufgrund einer veränderten Schreib- und Produktionspraxis, einer Formulierung eines anderen Theaters, eines veränderten Zugriffs auf eine medialisierte Wirklichkeit usw. gerade von AutorInnen erweitert hat. Gemeint ist damit eine Auseinandersetzung von AutorInnen mit dem Theater, mit seinen Anforderungen, mit seiner Praxis, mit seinen Produktionsbedingungen. Dieser für die jüngere, deutsche Theatertradition scheinbar identitätsstiftende, uralte Streit zwischen AutorInnen und dem Theater, der Wirklichkeit und der Bühne, der Sprache und dem Körper ist nicht der einzige Weg, der zu dieser heutigen, erweiterten AutorInnenschaft geführt hat, es ist allerdings einer, der gern unter den Tisch geredet wird.

Warum schämt sich das Theater immer, wenn es vom Text sprechen soll?

Dass man den Beitrag von AutorInnen zu einem erweiterten Text- und AutorInnenschaftsbegriff unterschlägt, korrespondiert mit einer diskursiven Hilflosigkeit, zeitgenössischen Theatertext zu verhandeln. Der Betrieb, der sich gern erweitert gibt, müht sich recht unbeholfen von Begriff zu Begriff, um diese Erweiterung auf den Punkt zu bringen. Dabei lässt sich in der Sprache fast eine Scham vor selbstständigen Theatertexten beobachten. Von „szenischen Vorlagen“ ist die Rede, von „Materialanlagen“, usw. Dem Theatertext wird sein literarischer Charakter dabei wiederholt abgesprochen – Ausnahmen von Reclam-Klassikern bestätigen natürlich die Regel. Dass allerdings neue, zeitgenössische Theatertexte schlichtweg außerhalb des Theaters kaum eine eigenständige Rezeption erfahren – weder in den Literaturwissenschaften, noch in den Theaterwissenschaften – wird übersehen.

Theatertext – erweitert oder marginalisiert?

Die Literaturwissenschaft liest Theatertexte genauso wie die stark marginalisierte Lyrik eher als Nebenprodukt schriftstellerischer Tätigkeit, selten als eigenständiges Format und durchläuft das Drama in Riesenschritten im Einführungsproseminar einmal quer von der aristotelischen Dramatik zur nicht-aristotelischen. Dann ist meistens Schluss. Dass gerade Theatertexte der letzten Jahrzehnte in ihrer Vielfältigkeit (eben auch Texte, die ganz unklassisch nicht am Schreibtisch erarbeitet wurden, sondern in unterschiedlichsten Prozessen, aus unterschiedlichstem Material) mit dafür verantwortlich waren, den Textbegriff zu erweitern, fällt wieder unter den Tisch. Die Theaterwissenschaft hingegen will offensichtlich wenig von einem „klassischen“ Theatertext (ein Begriff, der in sich schon sinnlos ist, als hätte man es je mit einem klassischen Theatertext zu tun gehabt) wissen – seit sie, im Versuch sich als eigenständige Disziplin zu behaupten, den Textbegriff erweitert hat. Von Schauspiel- und Regieschulen sowieso ganz zu schweigen. Zurückbleibt ein seltsam aus der Welt gefallener Theatertext in seiner Vielfalt, der allerdings nur noch in den Theatern eine Auseinandersetzung findet, die schnell von neuen Formen überfordert sind, weil Ästhetiken zeitgenössischer Texte selten bis gar nicht unterrichtet, diskutiert, in Frage gestellt werden, sondern schlichtweg hingenommen.

Warum werden Theatertexte eigentlich nicht mehr gelesen?

Nicht nur findet keine Auseinandersetzung statt, Theatertexte werden auch kaum als eigenständige Texte gelesen. Nur wenige AutorInnen können sich darüber freuen, dass ihren Texten das Siegel des literarischen, lesbaren Textes zugesprochen wird und dass die Texte gedruckt werden. Die meisten der Texte „leben“ erst auf der Bühne, heißt es. So dass man einen Diskurs „abseits“ des Bühnenlebens über Ästhetiken, Stoffe, Formen, etc. eigentlich per se schon gar nicht mehr gewohnt ist zu führen. Texte sind dabei viel mehr als nur Lesedramen. Ihnen ist eine bestimmte Theaterpraxis und ein bestimmter Theaterbegriff eingeschrieben. Sie könnten in ihrer Widersprüchlichkeit und Unsortiertheit als Archiv des Theaters betrachtet werden. Ganz wie die Körper von SchauspielerInnen.

Warum werden (lebende) AutorInnen andauernd in ihrer Profession angegriffen?

Von Zeit zu Zeit poltert der Betrieb oder div. RepräsentantInnen wieder pauschal gegen AutorInnen. Dabei ist es nicht besonders revolutionär, AutorInnen vom Theater auszuklammern oder mit großer Geste von einem neuen Paradigma zu sprechen, gar von „neuen“ AutorInnen. Es ist der älteste Theatergag der deutschen Theatertradition, alle halben Jahre das große Scheingefecht um die Bühnenvormacht wieder auszupacken. Dabei war die AutorInnenposition seit ihrer Erfindung immer schon eine höchst prekäre und umkämpfte. Und es war immer schon ein Schattenboxen zwischen Untoten, dieser seltsame, institutionalisierte Schaukampf RegisseurIn vs. AutorIn. Nach wie vor gibt es nicht eine/n AutorIn, die/der ein Theater leitet, das alleine zeigt die ungleichmäßige Hierarchie im Theater. Heute sollte man dieses Poltern gegenüber einer Berufsgruppe allerdings noch einmal unter verschärften ökonomischen Bedingungen betrachten: AutorInnen wegzurationalisieren um das „Material“ hingegen vom theaterinternen Personal organisieren zu lassen, ist natürlich wesentlich günstiger und passt gut zu neoliberalen Verschlankungsfantasien öffentlicher Institutionen im Spätkapitalismus.

Innere Distanzierung oder widerständige Form?

Interessant ist, dass die Anfeindungen nicht Texte an sich treffen, sondern AutorInnen als Berufsgruppe. Als würde man sagen, wer braucht heute noch Operntenöre, wir haben ja Oboen? Wer braucht Dramaturgien, wir haben ja eine Presseabteilung? Oder wer braucht RegisseurInnen, wir haben ja die BühnentechnikerInnen? Es findet also nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ökonomische Debatte statt. Als wäre es eine unsichtbare und damit ökonomisch nicht wertzuschätzende Arbeit, eine Sprache zu erfinden, einen Stoff zu entwickeln, über Jahre hinweg eine Ästhetik zu entwickeln, die am Ende auch den „Betrieb“ wieder voranbringt. Von schnellen, schlecht bezahlten Formaten, kann nicht jede/r leben. Interessant ist natürlich zu fragen, wie einzelne (und damit in Summe ein ganzer Betrieb) mit Produktionsbedingungen umgehen. Distanziert man sich aufgrund ökonomischer, produktionstechnischer Zwänge komplett von einem Betrieb? Schweigt man? Oder nimmt man diese Produktionsbedingungen aktiv in die eigene Arbeit mit hinein, verändert die Form, um Arbeitsbedingungen anzusprechen, macht sie widerständig, spröde, schwierig? Schottet man sich ab oder verändert man die eigene Arbeit als Reaktion? Zum Schutz gründet man eigene Kollektive, erfindet eigene Produktionsweisen und Formate – immer mit dem Risiko vor Augen, dass dieses widerständige, nicht zwingend betriebstaugliche Sprechen und Arbeiten nicht gehört werden wird oder im diskursiven Rauschen untergeht.

Was genau meint „Projekttheater“?

Das Theater ist mit seinen Begriffen manchmal recht hilflos. Was genau zum Beispiel unter „Projekttheater“ zu verstehen ist, traut sich auch niemand zu sagen. Eine Vermutung sind Formate, die das theaterinterne Personal zu einem großen, interessanten, aktuellen Thema erarbeiten soll. Das kostet dann wenig und ist trotzdem nah an der Wirklichkeit dran. Beinahe hat man so schnell das Gefühl, dass die Theater sich keine literarisch gearbeiteten Texte mehr wünschen, sondern lieber schnell zusammenrecherchierte Thementexte, die in einem „spannenden“, „polyphonen“ Probenprozess entstehen, als verlängertes Hauptabendprogramm, über IS, Alzheimer, #snowden und die übernächste Finanzkrise mit denen dann auf der Bühne Gegenwart „verhandelt“ werden kann. Man wünscht sich statt Text Material und gleichzeitig möchte man natürlich keine umfangreichen Materialrecherchen unterstützen, weil ein Verständnis für Recherchekosten selten existiert. Ähnliche Probleme gelten für andere Formen von Stückentwicklungen. Die Idee mag gut sein, Raum die Formate zu belasten, umzuschmeißen oder richtig zu experimentieren, wird allerdings selten gegeben. Am Ende stempelt man dieses interne Fabrikat als interessantes, neues Format ab, in der allerdings Idee, Text und Form selten ineinander aufgehen, weil diese Formen der Autorschaft unter Umständen über längere Zeiträume hinweg eingeübt werden sollten, anstatt sie aus Aktualitätsgründen einem gänzlich anders getakteten Betrieb einfach mal so überzustülpen.

Was ist ein literarisches, widerständiges Sprechen?

Weit weg ist man damit von der Suche nach einer widerständigen Sprache, die in der Reibung mit Körper, Regie und Bühne, das Theater zu neuen Formen zwingt. Und eine Distanz zur Realität herstellt, die ein Nachdenken über selbige überhaupt erst produktiv macht. Wenn Sprache Realität herstellt, braucht es eine Sprache, die diese hergestellte Realität, und ihre produzierten Fiktionen in einer Verfremdung wieder erfahrbar und kritisierbar macht. Literarische Sprache war immer Sprach- und damit Diskurskritik. Hat die diskursiven Fiktionen immer in Frage gestellt und einfache politische Narrativa durcheinandergebracht. Was eine widerständige Sprache im späten Multimedia-Spektakel-Kapitalismus sein kann, der sich nach wie vor resistent gegenüber einer Sprachkritik gibt, bleibt offen.

Wer ist eigentlich heute das Publikum?

Für wen macht man eigentlich Theater? Wen will man erreichen? Die Krise des Textes ist vielleicht nur eine kleine Fußnote zu einer Krise des Theaters, das zwischen Erneuerung und Abo hin und her gerissen strudelt. Und vielleicht ist das vorschnelle Abstoßen des („einen“, „klassischen“) Textbegriffs (der wie ein gespenstisches Dispositiv immer eine jede Debatte über diese Fragen heimsucht) eine recht hilflose Panik-Reaktion, auf Fragen, die gestellt werden müssen, die aber vielleicht ganz anders und vielleicht auch weniger dramatisch und polternd beantwortet werden könnten. Gespräche sind dazu oft ein recht guter erster Schritt.

Warum redet noch irgendwer von einer heimlich immer noch laufenden Regietheater-debatte, von der niemand weiß und die auch eigentlich nicht mehr geführt wird?

Zur inflationär geführten Debatte um die Vormacht auf der Bühne lässt sich abschließend eigentlich nur sagen: Zwei Positionen in der Theaterpraxis sind unersetzbar, die der/des AutorIn und die der/des HospitantIn. Beide sind wichtig, weil sie von außen kommen und mit dem Theater nichts zu tun haben, und nur die beiden können die fürs Theater entscheidenden Fragen stellen, nämlich: Was passiert hier? Was macht ihr hier? Was soll das eigentlich alles?

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